Vom Ekel

verfall

Vielleicht schreibe ich heute über ein Tabu.

Aber: Ich mag keine Tabus.

Tabus bedeuten nur, dass man über irgendetwas nicht reden oder schreiben sollte. Und nicht, dass das, was unausgesprochen und  verschwiegen bleibt, nicht existiert.

Vielleicht schreibe ich aber auch nur einfach mal wieder das, was mir durch den Kopf geht. Vielleicht habe ich einfach so viele Fragen. Und brauche eine GESELLSCHAFT (im wahrsten Sinne), um Antworten zu finden.

Nun aber zu meiner Geschichte:

Vor kurzem war ich mit Julius Schuhe kaufen. Es war ein Samstagvormittag und ich war in einer mittelgroßen Stadt unterwegs. Draußen schien die Sonne, der Herbst zeigte sich von seiner schönsten Seite. Dementsprechend lebendig ging es auf der Fußgängerzone und in dem von mir auserwählten Schuhladen zu, in dem sich zahlreiche kauflustige Kundinnen, die neuen Modelle von Gabor, Paul Green und Co zu Gemüte führten.

Ich betrat, oder besser befuhr, mit Julius  im Kangoo, das ist unser großer, freizeittauglicher, geländegängiger Rehabuggy, unser Behinderten-SUV sozusagen, besagten Laden. Der Kangoo hat den Nachteil, dass er ziemlich sperrig, breit, ja imposant wirkt – wie ein SUV eben.  Er passte infolgedessen auch nicht durch die engen Räume, die mit Schuhregalen, Stühlen und Kartons vollgestellt waren. Ich fühlte mich in etwa so, als ob ich mit einer Mercedes M-Klasse durch die engen Gassen von San Gimignano fahren wollte.

Und ähnlich viel Aufmerksamkeit erhielt ich.

Es erbarmte sich eine Verkäuferin und räumte mir, wie ein Schneepflug auf einer völlig verschneiten Landstraße, den Weg frei. Sprich, sie schob – einen Meter vorauslaufend-  aufgestapelte Kartonberge zur Seite. Diese Situation an sich war mir schon unangenehm, weil alle Damen, die mit einem Fuß in einem neuen Stiefel steckten und parallel dazu mit Schuhlöffeln herumhantierten, sich nicht mehr für die aktuelle Wintermode interessierten, sondern verständlicherweise für uns.  Dazu saß Julius, mal wieder von seinen nicht funktionierenden und völlig überschießenden Nervenzellimpulsübertragungen geplagt, sehr zappelig und unkoordiniert mit Armen und Beinen rudernd, im Wagen. Wobei das beeindruckende wohl eher seine Augen waren, die er gruselig nach oben verdrehte.

Wir boten keinen schönen Anblick. Nein, absolut nicht.

Und ich? Ich sah unseren Sohn an diesem Vormittag nicht durch meine liebenden Augen. Sondern mal wieder durch die Augen der anderen.

Nachdem die Verkäuferin ihren Räumdienst beendet hatte und ihren eigentlichen Job antreten wollte, entfuhr ihr, sichtlich betroffen, folgender Satz: “O, da haben sie aber keine leichte Aufgabe.“  Sie schüttelte besorgt den Kopf. Blick zu Julius. Blick zu mir.

„Aber was soll man machen? Weggeben kann man ihn ja auch nicht, gell?“ meinte sie.

Ich schaute sie an und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

Unsicherheit überkam mich. Und das, ausgerechnet in einer Situation, in der ich Sicherheit hätte ausstrahlen sollen.

„Nein“, sagte ich nur, legte Julius`  vorgefallenen Kopf wieder in seine maßgeschneiderten Polsterstützen zurück und wischte ihm mit einem Taschentuch den Speichel aus den Mundwinkeln.

Und in diesem Moment kam mir ein Gedanke: Es ist der Ekel! Wir ekeln uns vor Behinderung.

Denn Behinderung ist manchmal nicht schön anzusehen. Und löst Ekelgefühle aus. Auch ich, Mutter eines schwerstbehinderten Kindes, kenne diese Gefühle in mir sehr gut.

Nein, vor Julius ekle ich mich nicht. Ich liebe ihn. Ich kann ihm den Popo putzen, den Mund abwischen, ich kann ihn abknutschen, auch wenn er von oben bis unten versabbert ist.

Eines kann ich sicher sagen: Das macht mir nichts aus. Überhaupt nichts. Aber ich weiß nicht, wie es mir bei einem anderen Kind gehen würde.

Wie also sollte ich davon ausgehen, dass eine mir völlig fremde Person von meinem Sohn nicht erst einmal schockiert ist, ihn womöglich abstoßend findet, oder sich vielleicht sogar vor ihm ekelt? Mir würde es wahrscheinlich so gehen –  wäre er nicht mein Sohn.

Es tut unheimlich weh, zu erkennen, dass  womöglich andere Menschen den eigenen Sohn abstoßend empfinden. Wollen Eltern nicht, dass ihre Kinder, die hübschesten, die intelligentesten Kinder sind? Sie von allen, im Idealfall, der ganzen Welt geliebt werden?

Und dann so etwas. Ekel. Dem eigenen Kind gegenüber.

Ekel verschwindet durch das Gefühl der Liebe.

Aber Liebe muss erst wachsen.

Ich kann nicht von einer Gesellschaft erwarten, dass sie meinen Sohn unmittelbar annimmt, ohne ihn zu kennen.

Nein, aber ich will ihn auch nicht „weg geben“, wie es die Verkäuferin so treffend formulierte.

Es ist wie es ist: So lange es Menschen auf dieser Welt gibt, wird es Krankheit, Behinderung und den Tod geben.

Nichts davon, kann man „wegtun, wegmachen oder wegsperren“. Ich glaube, das Beste, was man tun kann, ist, all dem in die Augen zu schauen, auch dem Ekel. Direkt. Und sich dann damit auseinanderzusetzen.

Genau dann nämlich beginnt die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Angst zu erkranken, ekelhaft, schwach und hilflos zu sein.

Und letztendlich sterblich zu sein, dem Tod und dem eigenen Verfall nicht entrinnen zu können.

Man kann aber nur den sichtbaren Dingen in die Augen schauen.

Deshalb bekommt Julius im Frühjahr wieder neue Schuhe.

5 Gedanken zu „Vom Ekel

  1. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mal ein schwerstbehindertes Kind und seine Mutter auf dem Spielplatz gesehen habe und dachte: Wie schafft sie das nur? Dann bekam ich selber so ein Kind. Trotzdem, bei „anderen“ ist es eklig, oder? Liebste Frau Noack, ich habe eine gute Freundin, die unter anderem eine leichte Behinderung im Gesicht hat. Wenn ich mit ihr essen gehe und es bleibt ihr etwas im Gesicht hängen, ja, dann finde ich das eklig. (sie kennt natürlich ihr problem und ich weise sie dann diskret drauf hin, es stört sie ja selbst auch). Ich fand meine sterbende Tante, die aufgrund ihrer Demenz zehn Jahre lang komplett auf Zahnpflege verzichtet hat, wahnsinnig eklig. Ich saß an ihrem Bett, von dem Gestank aus ihrem Mund wurde mir speiübel, und ich habe ihn gesucht, den Menschen, der mich schon mein ganzes Leben lang begleitet und zu dem ich viele Jahre „aufgeschaut“ habe. Es war nicht viel davon übrig. Ich bin eigentlich kein „fimmschiger“ Typ, wie wir im Rheinland sagen, aber ich mag es selbst nicht, andere Kinder zu wickeln. Sie haben das sehr schön beschrieben: Es ist die Liebe, die den Ekel verschwinden lässt. Und vielleicht auch, zu wissen, dass wir eines Tages womöglich auch in einem Rollstuhl sitzen und uns ein Speichelfaden aus dem Mund rinnt.
    Was ist eigentlich schlimmer – die „Eklig“-Abwender, die “ Habt Ihrs-Nicht-Gewusst“-Denker oder -Sager – oder die Mitleidigen Blicke? Als unsere Maus auf die Welt kam, waren mein Mann und ich uns rasch einig: Die Mitleids-Masche ist die Schlimmste für uns. Wie Sie es so schön in Ihrem Buch schreiben, unsere Tochter ist toll und sie bereichert unser Leben. Man muss kein Mitleid mit uns haben. Aber ab und zu dürfte man uns schon ein klein wenig bewundern für das, was wir im Alltag so stemmen, oder? 🙂

    1. Liebe ChaosLu,

      Danke für diesen lebendigen und ehrlichen Beitrag! Ich finde es wichtig, dass so ein Thema wie „Ekel“ diskutiert wird. Wir kennen ihn doch alle…deshalb: toll, dass Sie geschrieben haben! Herzliche Grüße Gabriele Noack

  2. Liebe Frau Noack, ich kann mich da nur anschließen! Ich kann mich so gut in die Situation, im Schuhgeschäft hineinversetzen. Ich selbst hatte schon soviele gleiche Situationen. Die Menschen sehen mich oder meinen Sohn mitleidig, entsetzt oder schockiert an. Gerade an Tagen an denen eigentlich alles super läuft, es Joshua gut geht und wir einfach nur etwas ganz alltägliches in der Öffentlichkeit erledigen, trifft es einen mitten ins Herz. Diese Blicke der anderen…die keine Ahnung haben und doch kritisieren. Mein zweiter Sohn sagte letztens, das es Joshua eigentlich am besten hat, weil er keine Vorurteile hat und mit den kleinen Dingen zufrieden ist, die „normale“ Menschen gar nicht mehr sehen.
    Liebe Grüße Katja

  3. Ja sehr treffend formuliert. Genau so ist es. Letztendlich ist alles eine einzige Auseinandersetzung mit sich selbst. Und trotzdem kann man Niemandem seine Gefühle übel nehmen. Oft sind diese ja auch unbestimmt. Man hat ein Gefühl, weiss aber gar nicht so richtig welches und meist kehrt man auch nicht in sich um das Gefühl zu ergründen… Leider.
    Aber wie sagt man so schön: Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Alles ist ein ständiger Lernprozess.

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