Von Glückstreffern

 

Weg Sachrang

 

In den letzten Tagen musste ich oft an meine Studentenzeit denken. Genau genommen an eine bestimmte Situation in einem Seminar. Es fand im ersten Semester statt. Ich hatte mich für den Kurs „Das Selbstbewusstsein stärken“ angemeldet.  Ein Psychologe, Verhaltenstherapeut, hatte ihn angeboten. Für die „Neuen“, die „Küken“ an der Fachhochschule. Wir trafen uns einmal in der Woche und bei jedem Treffen gab es verschiedene Übungen und Hausaufgaben zu erledigen. Wir mussten uns zum Beispiel in einem Laden beraten lassen und dann das Produkt doch nicht kaufen, Termine klar und deutlich absagen, Bitten von Freunden ausschlagen, eine kleine Rede in der Gruppe halten und so weiter. Die Abschlussaufgabe war die Krönung. Sie war eine Art Examen, eine Reifeprüfung, oder besser, der Härtetest:

Wir sollten samstagsabends in ein vollbesetztes Kino gehen. Kurz bevor sich der Vorhang öffnete, sollte man nach vorne laufen. Ganz nach vorne, vor die erste Reihe sollte man sich stellen. Dann, sich umdrehen, in die Zuschauermenge blicken, um daraufhin mit sicherer, kraftvoller Stimme einen Namen zu rufen. Irgendeinen Namen. Man sollte seine Augen fragend und orientierungslos über die Reihen der Kinobesucher schweben lassen, so als ob man jemanden suchen würde. Nach diesem spektakulären Auftritt, durfte man nicht gleich das Weite suchen. Nein, es galt noch für ein paar Sekunden die Blicke der anderen auszuhalten und zu fühlen. Alles einfach. In sich hineinhorchen. Was sich da so tat. Im Inneren.

Es war das Jahr 1998 und es lief kein unbedeutenderer Streifen als James Camerons Titanic. Wahrscheinlich der Film des Jahrhunderts, das Kino platzte aus allen Nähten. Ich erledigte meine Aufgabe natürlich pflichtbewusst. Ich stand vorne, blieb stehen, blickte über eine schwindelerregende Menge an Köpfen hinweg, und brüllte „MAAAAAAX“.

Es war erstmal schrecklich. Unangenehm.

Aber dann. Nichts passierte. Gar nichts. Manche schauten kurz zu mir. Die Meisten redeten ungestört weiter und grapschten dabei schmatzend in ihre Popcorntüte oder nuckelten am Strohhalm ihres Coke-Bechers. Die ganze Aufregung umsonst. Vielleicht dachten einige „was will die denn?“. Oder auch nicht. Im Grunde war es doch auch völlig egal. Die Welt drehte sich weiter. Das Geschehen nahm seinen Lauf. Genauso wie vor meinem Brüller. Was hatte ich denn befürchtet? Und warum bloß? Wie konnte ich mich nur so wichtig nehmen?

Mit Julius fühle ich mich manchmal so. So, als ob ich wieder vor einer solchen Menge stehen würde. Im Restaurant, in der S-Bahn, im Wartezimmer der Ärzte. Nur dieses Mal brülle ich nicht irgendeinen Namen heraus. Ich halte meinen behinderten Sohn im Arm.

Aber Gabi, sag ich mir dann. Ich weiß es doch besser. Denk an die Titanic.

Nun gibt es seit zwei Wochen mein Buch zu lesen. Man kann es im Buchladen in Stuttgart, in Hamburg oder in Meckenbeuren kaufen (ja, es gibt sogar mittlerweile einige Leser in der Schweiz), man kann es im Internet bestellen oder es sich einfach als e-book herunterladen. Theoretisch überall. Ich habe nicht nur einen zufällig gewählten und für mich bedeutungslosen Namen vor einer begrenzten Anzahl an Zuschauern heraus gebrüllt. Nein, ich habe einen Teil unserer, meiner Lebensgeschichte quasi in die Welt hinaus geschleudert. Ein seltsames Gefühl. Ich gebe zu, in den Tagen um die Veröffentlichung herum, fühlte ich auch ähnlich wie damals im Kino vor fast 20 Jahren. Es war (und das ist es immer noch) aufregend. Aber auch unangenehm. Klar, weil ich nicht wusste, was „passiert“.

„Da hast Du ganz schön viel von Dir preisgegeben. Hut ab!“, so lautete eine erste Rückmeldung einer Bekannten. Und es folgten ähnliche. „Macht Dir das nichts aus, wenn so viele nun über Dich Bescheid wissen?“

Und manchmal habe ich mich tatsächlich gefragt, warum ich nicht (noch) mehr genäht habe, oder das Malen begonnen habe, oder das Musizieren. Es wäre unkritischer gewesen. Denn ein Bild, ein Musikstück, etwas Geschneidertes kann vieles verbergen, lässt unterschiedliche Interpretationen zu und es sind trotzdem kreative Möglichkeiten sich auszudrücken. Und letztendlich denke ich, steckt hinter jeglichem „Schaffen“ der Wunsch, sich zu zeigen, sich zu offenbaren, um in seinem Wesen „erkannt“ zu werden und sich im Austausch mit seiner Umwelt irgendwann selbst zu erkennen.

Aber nein, mein Weg war oder ist das Schreiben. Und wahrscheinlich genau deshalb, weil eben nur Worte und Sätze so klar, verständlich und treffend sein können. Sprache ist für mich die beste, die genauste, die deutlichste Art und Weise, mit meinen Gefühlen und letztendlich mit mir in Verbindung zu treten. Manchmal fühlt sich für mich ein geschriebener Satz genauso an, wie wenn ich beim Pfeil und Bogenschießen ins Schwarze getroffen hätte. Und in so einem Moment fühle ich mich irgendwie „ganz“, „richtig“ und erfüllt. Es sind „Glückstreffer“.

Mittlerweile brauche ich das Schreiben. Um mit meiner Welt, sowohl mit meiner äußeren, als auch mit meiner inneren, in Kontakt zu kommen. Und das fühlt sich gut an. Und nein, deshalb macht es mir nichts aus, vieles (nicht alles) von mir zu zeigen. Im Gegenteil.

Und jetzt? Heute? Zwei Wochen später? Eines ist sicher: Die Welt dreht sich weiter. Wie zuvor und wie schon immer. Natürlich!

 

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