So wie es ist

Wenn man ein behindertes Kind bekommt, sind Schuldgefühle dein täglicher Begleiter, sagt Michael.

Ja, ich weiß, denke ich. Sie sind die leise, melancholische Hintergrundmelodie in meinem Alltag, sind die Leinen, die mich fest mit der Erde verbinden und vor dem schwerelosen Abheben schützen, sind die Impulse, die mich oft ein bisschen tiefer atmen lassen, so, dass das Luftholen manchmal fast nach einem Seufzen klingt. Denn egal, was man macht, man macht stets zu wenig. Weil genug zu tun bedeuten würde, man könnte den Menschen, den man so sehr liebt, vor Leid bewahren, ihm helfen, ihm eine Zukunft bieten. Nein, genug wäre vielleicht erst dann, wenn man diesen Menschen gesund und sicher durch sein Leben brächte.

Der Schmerz bleibt, sagt mir mein Lehranalytiker.

Ja, ich weiß, denke ich. Er ist das Streichholz für mein Auge, hält es offen, damit ich den Blick für das Wesentliche nicht verschließen kann, er ist die Lupe, mit der ich die alltäglichen Kleinigkeiten in ihrer Großartigkeit betrachten kann. Kleinigkeiten, die mir sonst womöglich selbstverständlich vorkämen. Kinderlachen, ein Gute-Nacht-Kuss, der volle Kühlschrank, Apfelblüte.

Die Diagnosestellung ist wie ein Tod, den es zu betrauern gilt, sagt meine Freundin.

Ja, ich weiß, denke ich. Die Trauer ist eine bittersüße Essenz, die die eigenen Grenzen sichtbar macht, wenn man von ihr kostet. Sie lässt mich die Zäune sehen, die meinen Lebensraum umschließen, damit ich begreife, welchen Raum es zu hegen und zu pflegen gilt, so gut es eben geht.

Die Trauer ist ein Seziermesser, legt dein Herz frei, bis du es nackt und schutzlos in den Händen hältst.

Aber dennoch, ein krankes Kind ist ein seltsamer Verlust, der zu beklagen ist. Es ist wie ein Tod ohne einen Toten, ein Tod ohne endgültigen Abschied, ein Tod irgendwie auf Lebenszeit.

4 Gedanken zu „So wie es ist

  1. Jedes ist anders. Es gibt die, die uns irgendwann wirklich bereichern, weil sie den Charme kleiner Kinder ein Leben lang behalten, die arglos fröhlich sind, heiter, zugewandt. Es gibt die, die aggressiv werden und grob. Und die, die in ihrer eignen Welt bleiben, unergründlich, immer in der inneren Ferne. „Es ist wie ein Tod ohne einen Toten, ein Tod ohne endgültigen Abschied, ein Tod irgendwie auf Lebenszeit.“ Dieser Satz lässt mich nachempfinden, wie es Dir geht, liebe Gabi. Ich weine gerade mit Dir. Herzlich, Anja

  2. Liebe Gabriele, ich wage zu behaupten, dass ich schon immer einen Drang verspürt habe, die Kleinigkeiten des Lebens in ihrer Großartigkeit zu betrachten. Doch erst durch die Geburt meiner kleinen Tochter Emma und dem damit verbundenen langsamen Begreifen, der mal schleichenden -mal rasenden Veränderung meiner Lebenswelt und der Bewusstmachung von meinem verletzlichen Innersten, habe ich erkannt WIE großartig das Kleine ist. Und wie klein so vieles, das als groß gilt.
    Du beschreibst ein krankes Kind als Verlust. Ich selbst kann dem in der Hinsicht beiwohnen, dass ich mich von meiner „heilen Welt Vorstellung“ verabschieden musste. Erst dachte ich auch von meiner Leichtigkeit. Meinem verrückt sein dürfen. Doch gelingt es mir nicht diese Gedanken aufrechtzuerhalten sobald Emma bei mir ist. Sie lehrt mich so vieles. Natürlich wünsche ich ihr ein Leben wie das ihrer Schwestern. Doch vermag keiner zu beurteilen, ob sie damit glücklicher wäre. Ich empfinde weniger einen Verlust, als große Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass sie bei uns ist. Jeden Tag. Und ich versuche meine innere Ruhe nicht zu verlieren, wenn ich bemerke, dass ich nie genug tun kann, nie fertig bin. Und wenn es sich doch mal so anfühlt, dann bin ich meiner Tochter nah und durch sie kommt sie zurück, die Ruhe. Ich glaube wir alle sind machtlos und schutzlos. Nur wissen es die meisten Menschen nicht.

    Ich wünsche euch alles Liebe. Von Herzen. Anne

    1. Liebe Anne, meine Antwort kommt spät – Entschuldigung! Aber ich bin die letzten Wochen nicht zum Schreiben gekommen. Danke, dass Du Deine Gedanken hier teilst! Herzliche Grüße an Dich und Deine Familie! Gabriele

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