Vom Aushalten

„Ich würde am liebsten meinen Rucksack packen und loswandern. Egal wohin, einfach nur weg…“, sagte meine Arbeitskollegin gestern zu mir.

Auf und davon. Raus aus dieser Misere, irgendwohin, wo alles anders, besser ist, irgendwohin, wo es kein Corona gibt. Aber genau das geht nicht. Wir sind gezwungen hier zu bleiben. Hier, in unserer Stadt, in unserer Gemeinde, vielleicht sogar bald in unseren Häusern, in unseren Wohnungen, Zimmern.

All dies weckt Erinnerungen in mir: Das, was ist, nicht glauben, nicht wahrhaben zu wollen. Die Angst, die Situation nicht ertragen zu können. Und den dazugehörigen, unbändigen inneren Drang, irgendetwas an dieser Lage verändern zu MÜSSEN.

Ins Schweigekloster. Auf einer Almhütte Käse herstellen. Im Segelboot über die Meere schippern. In Nigeria bei Ärzte ohne Grenzen mitarbeiten.

Weg. Fort. Nur nicht das, was gerade IST aushalten.

Wir machen jetzt kollektiv die Erfahrung, dass unser Dasein Grenzen hat, werden schlagartig mit der Tatsache konfrontiert, dass es absolute Sicherheit nicht gibt, Realitäten sich nicht ändern lassen, Unsicherheiten manchmal nur ausgehalten werden können und das Leben meist tödlich endet. Wenn einzelne Personen genau das erleben, weil sie schwer erkranken, weil ein Familienmitglied stirbt, oder weil sie mit Leid und Kummer konfrontiert werden, dann verändert sie das. Viele Betroffene berichten, von einem neuen Blick auf die Welt, auf die anderen und vor allem auf sich selbst. Ihr Schicksalsschlag habe ihnen gezeigt, was wirklich wichtig ist, habe sie Dankbarkeit für all das Gute spüren lassen, habe sie weicher, offener und toleranter gemacht, sagen sie.

Gilt dies auch für eine Gesellschaft, frage ich mich? In Krisenzeiten haben wir Menschen die Möglichkeit, uns zu besinnen. Uns zu entwickeln. In unserem normalerweise sehr sicheren Alltag brauchen wir uns nicht verändern. Sicherheit ist etwas Wundervolles.

Sicherheit macht aber auch träge.

Es berührt mich, wenn ich lese und höre, was aktuell Gutes und Kreatives aus diesem viralen Wahnsinn entsteht.

„Obwohl wir 1,5 m Sicherheitsabstand zueinander einhalten müssen, sind wir uns im Team irgendwie viel näher als vor Corona“, berichtet Michael aus seinem Büro.

Standing Ovations für die Pflegekräfte, unser Handballverein kauft für die besonders gefährdeten Mitbürger Lebensmittel ein, Nachbarn werfen Süßigkeiten für die Kinder über den Gartenzaun und „Quarantänisten“ trällern am offenen Fenster gemeinsam die Ode an die Freude. „Balkonsingen“ – Networking in erzwungener Selbstisolierung.

Die Welt im Shutdown. Wir alle müssen uns im AUSHALTEN üben. Und uns damit auseinandersetzen, dass nichts wirklich kontrollierbar ist.

Vielleicht steckt darin die Chance, unser Leben und unser Miteinander noch mehr wert zu schätzen, eben weil es begrenzt ist.

4 Gedanken zu „Vom Aushalten

  1. Wenn es dem Teil unserer Gesellschaft, welcher bisher ohne Dankbarkeit und Wertschätzung durchs Leben gegangen ist, jetzt nicht bewusst wird, wie gut es uns in (Lebens)Krisen und Schicksals freien Zeiten geht, wann dann!!!??
    Liebe Gabi, Du sprichts mir mit Deinen Beiträgen aus dem Herzen! Alles Gute für Dich und Deine Lieben! Sonnige Grüße, Sandra

  2. Liebe Gabriele

    Gut geschrieben! Alle die bisher von einem Schicksalsschlag verschont blieben (was ich auch jeden gönnen mag), haben jetzt die Chance ihre Lebensgestaltung bewusst wahr zu nehmen.
    Und ich wünsche mir, dass jeder das nutzt, um Positives zu schöpfen. So dass auch unsere Gesellschaft davon Nutzen trägt.
    Ich weiss nicht, ob ich hier meinen Link setzen darf:
    https://www.impuls-lebensgestaltung.ch/post/die-j%C3%BCngste-zeit-m%C3%A4rz-2020

    Herzlichst
    Nadine

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