Vom Glück

„Oft werde ich gefragt, wie es ihm geht, ob er glücklich ist? Ja, das ist er (…)“

schrieb vor kurzem Florian Jaenike in seiner aktuellen Kolumne im „Zeit Magazin“. Seit einigen Wochen berichtet der Fotograf regelmäßig mit einem Bild und einem ganz kurzen Text über seinen schwer mehrfach behinderten Sohn Friedrich.

Jede Aufnahme von Friedrich kommt mir bekannt vor. Es ist erschreckend wie ähnlich sich besondere Kinder oft sind. Die überstreckte Haltung, der Blick nach oben, die Stellung der Hände, der halb geöffnete Mund und vor allem: diese Augen. Augen, die scheinbar in eine andere, uns fremde Welt schauen.

Mich berührt die „Zeit“-Kolumne. Sie ruft mir in Erinnerung, dass es da draußen noch viele andere Familien mit Juliussen oder Friedrichen gibt. Wir sind nicht allein. Auch wenn man sich oft genug so fühlt.

Diese Folge beschäftigt mich eine lange Zeit. Es ist wegen der Aussage über das Glücklichsein.

Ich werde häufig dasselbe gefragt:

Aber er ist doch glücklich?

Wieso müssen schwer behinderte Kinder unbedingt glücklich sein? Wenigstens glücklich…wenn schon sonst so vieles ziemlich bescheiden ist.

Als ob Glück nichts weiter bedarf und Glück sich über Schmerzen und Leid hinwegsetzen könnte.  

Glauben wir Gesunden vielmehr nicht, es brauche so einiges um sich richtig gut zu fühlen? Konsumgüter, Wellness, Luxus, körperliche Unversehrtheit. Umso mehr, umso besser. Und gleichzeitig erwarten wir von denen, für die das alles keine Bedeutung hat, sie sollen glücklich sein?  

Ich weiß nicht, ob Julius glücklich ist.

Was, wenn nicht?

Wäre ich glücklich, wenn ich mich beim Essen häufig verschlucken würde, nicht springen, tanzen, hüpfen,  sprechen, greifen, mich fast überhaupt nicht mitteilen könnte?  Und wenn es meinen Körper mehrmals am Tage in Krampfanfällen durchschütteln würde? Das frage ich mich.

Wenn ich ehrlich bin, weiß ich oft genug nicht, ob Julius Hunger, Durst, Muskelkater, Langeweile oder Schmerzen hat. Wie soll ich da bei ihm über so etwas Komplexes wie Glück Bescheid wissen?

Und mich quält manchmal eine ganz andere Ungewissheit:

Leidet Julius?

Natürlich gibt es diese kostbaren Momente, in denen Julius lacht, sichtlich entspannt einen Spaziergang, eine Massage, Musik oder den Wind genießt.

Aber reicht das? Wiegen diese guten Erlebnisse seine schwierigen auf?

Es muss so sein, alles andere wäre kaum aushaltbar, oder nicht?

Wie soll ich also reagieren, wenn jemand wissen will: Ist Julius glücklich?

Vielleicht sollte ich nur eine Gegenfrage stellen:

Was, wenn nicht?

12 Gedanken zu „Vom Glück

  1. Hallo Gabriele,
    Milo ist nicht glücklich. Vielleicht sollte ich mich glücklich schätzen, weil mein Sohn überdurchschnittlich intelligent ist, weil er mit mir kommuniziert, sich sehr präzise ausdrücken kann und dazu noch unglaublich schmusig ist. Aber er leidet genauso, weil seine psychischen Probleme ihm in seinem Alltag so sehr belasten, dass er mit 7 Jahren das erste Mal sagte dass er sich vergraben und nie mehr rauskommen möchte. Deine Beiträge haben mich sehr berührt, auch wenn mein Sohn nicht körperlich eingeschränkt ist.
    Ich wünsche dir alles Beste.

  2. Liebe Gabriele,
    ich habe Dein Buch gelesen und bin sehr beeindruckt. Nach einigen anderen Büchern zum Thema ist dies das ehrlichste. Danke dafür. Mein Pflegekind ist „nur“ genetisch retardiert und schwer alkoholgeschädigt, es bleibt immer auf dem Stand von etwa 2,5 Jahren. Was habe ich gehadert mit dem Schicksal, was habe ich geklagt. Das muss man dürfen. Ich empfinde, wie so manche Autoren ein behindertes Kind nicht als „Jackpot“. Ich empfinde nicht die Gesellschaft als behindert, wenn sie nicht genug Angebote bereit hält. Diese, Deine Sicht ist viel ehrlicher. Es ist ein schweres Los. Bei meinem Kind kann ich allerdings jetzt sagen: So ist es gut. Ein Kind, das pubertiert, aber keine Allüren entwickelt, sondern den Charme eines Kleinkindes behält, lebensfroh, empathisch. Bei Julius wird das nicht so sein. Viel Kraft Dir/Euch, Anja

  3. Liebe Frau Noack,
    Ich habe mich gerade angemeldet, um ihre Beiträge lesen zu können….
    Ich habe ihr Buch immer bei mir im Nachttisch liegen und es hat ( und tut es immer noch) mir sehr geholfen es zu lesen….. da zu diesem Zeitpunkt auch klar wurde, dass unser zweiter Sohn eine starke körperliche Behinderung hat…. viele Gedanken, Bedenken, und Situationen sprachen mir so aus der Seele …. ich hätte es nur nicht so aufschreiben können….
    Vielen Dank dafür

  4. Hallo Frau Noack,
    ich freue mich immer riesig einen neuen Beitrag von ihnen zu lesen.
    Dieser hier ist wieder sehr schön geschrieben. Meine Tochter hat letztens eine Geschichte beim Therapeuten gesehen die ich so passend fand, vielleicht kennen Sie die schon aber vielleicht gibt es ja jemand der sie noch nicht kennt. Willkommen in Holland !
    Ich werde oft gefragt, wie es ist, ein Kind zu haben, das behindert ist. Um verstehen zu können, welche Gefühle verbunden sind, solltest Du versuchen, Dir einmal folgende Situation vorzustellen:
    Wenn Du ein Baby erwartest, dann ist das so, als würdest du eine wundervolle phantastische Reise planen. Stellen wir uns einfach einmal vor – nach Italien:
    Du kaufst viele Bücher über Italien, liest all diese und machst großartige Pläne. Du möchtest nach Rom fahren und Dir das Kolosseum ansehen, Du willst Dir all die schönen Denkmäler in Florenz anschauen, die wundervollen Gemälde und die Gondeln in Venedig. Du lernst sogar einige hilfreiche und praktische italienische Redewendungen. All das ist unheimlich aufregend für Dich.
    Nach Monaten des langen Wartens ist der Tag nun endlich gekommen. Du packst deine Taschen und los geht die Reise. Viele Stunden später landet das Flugzeug. Die Flugbegleiterin begrüßt Dich über das Intercom mit den Worten: „Willkommen in Holland!“
    „HOLLAND schreist Du voller Entsetzen. Was soll das bedeuten, HOLLAND. Ich wollte doch nach ITALIEN!“
    Ich müsste jetzt eigentlich in Italien sein. Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, nach Italien zu reisen.“ „Es tut mir sehr leid, aber es gab eine Änderung im Flugplan. Nun sind Sie in Holland und hier müssen Sie auch bleiben.“ Das Wichtigste ist ja eigentlich, dass Du nicht an einem entsetzlichen, schrecklichen oder vielleicht sogar scheußlichen und sehr schmutzigen Ort bist. Eigentlich ist es ja nur ein anderes Land.
    Also machst Du Dich auf den Weg und kaufst neue Bücher. Außerdem musst Du jetzt eine ganz andere Sprache lernen, als ursprünglich geplant.
    Auch triffst Du ganz andere Menschen, als Du gedacht hattest. Ohne die Plan-änderung hättest Du die Leute aber nie kennen gelernt. Eigentlich ist es ja wirklich nur ein anderes Land. Alles ist ein wenig langsamer als Italien. Es ist weniger glanzvoll als Italien.
    Aber nachdem Du bereits eine Weile dort bist, beginnst Du Dich umzuschauen. Plötzlich fällt dir auf, dass Holland phantastische Windmühlen hat, wunder-schöne Blumen und sogar sehr berühmte Maler. Auch hier gibt es interessante Städte und auch viele schöne Dinge, die man sich anschauen kann. Aber fast alle Menschen, die Du triffst sind ständig nur damit beschäftigt von und nach Italien zu reisen … und sie alle berichten Dir über die wundervollen Dinge und die schöne Zeit, die sie in Italien hatten. Und Du wirst Dir für den Rest Deines Lebens vorhalten: „Ja, das ist das Land, in das ich eigentlich reisen wollte. Genau das hatte ich geplant.“
    Der Schmerz, den Dir diese Tatsache bereitet, wird nie nie nie vergehen, weil der Verlust deines Wunschtraumes, nach Italien zu gehen, so unheimlich groß ist.
    Aber … wenn Du den Rest Deines Lebens damit verbringst über die Tatsache zu trauern, dass Du nicht nach Italien fahren konntest, dann wirst Du niemals frei sein und Dich öffnen können, um die schönen und besonderen Dinge zu erleben, die Du finden kannst in … Holland.

    Liebe Grüße und weiterhin ganz viel Kraft
    Karina

    1. Liebe Karina, ja, wie schön! Ich erinnere mich an die Geschichte! Als Julius noch sehr klein war, hat sie mir im Krankenhaus jemand zu lesen gegeben. Die Metapher passt super und man kann viel daraus lernen. Aber manchmal, wenn es Julius gesundheitlich sehr schlecht geht, bin ich so verzweifelt, dass ich nicht das Gefühl habe, in Holland gelandet zu sein. Eher in einem bedrohlichen Krisengebiet. Da fällt es mir schwer, die schönen Dinge unseres neuen Aufenthaltsortes zu sehen. Zum Glück kann sich aber auch diese Sichtweise sehr schnell wieder ändern! Herzlichen Dank für Deine Nachricht und liebe Grüße! Gabriele

  5. Liebe Gabi,
    diese Frage stelle ich mir auch manchmal, ist „mein Julius“ auch glücklich? Ja, diese Momente gibt es , nur hat Julius Glück anders definiert wie wir. Er ist glücklich wenn er z. B. ein Musikinstrument sieht oder hört, da kann er lachen, hüpfen und vor Freude sich schütteln. Ich genieße diese Momente sehr und bin auch glücklich. In „guten Phasen“ kann er sogar noch ein paar Worte dazu kommentieren, das halte ich dann oft in Videos fest . Julius ist nun in der Pubertät angekommen, da sieht „sein Glück“ nochmal anders aus, trotzdem ist es schön zu sehen wie er nun einen großen Schritt in seiner Entwicklung gemacht hat.
    Glück zu haben ist so einfach, man muß es nur richtig definieren , das lernen wir von unseren besonderen Kinder sehr gut. Danke Julius , dass es dich gibt, so wie du bist.

    1. Liebe Alexia, ja, Du hast recht! Und ich finde, man entwickelt eine besondere Aufmerksamkeit und ein ganz feines Gespür für die Momente, in denen wir denken, dass Julius glücklich ist. Danke, dass Du mir geschrieben hast! Herzliche Grüße! Gabriele

  6. Liebe Frau Noack,

    Danke für Ihre Artikel. Sie berühren mich sehr. Woran macht man Glück fest? Das sind schwierige Fragen. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, Julius hat großes Glück, Sie als Eltern zu haben. Das ist vielleicht nicht das, was der Artikel sagen möchte. Ich werde darüber nachdenken, wenn mir Dinge selbstverständlich erscheinen. Danke für diesen Gedanken.

  7. Liebe Gabi,
    die Frage sollte man doch jedem Menschen stellen und drückt die Hoffnung des Fragenden aus, dass es dem anderen gut geht. Ich frage das oft Freunde und Bekannte, unabhängig vom Gesundheitszustand. Da Julius (und ihr) mehr aushalten muss, als viele andere, wünscht man ihm und euch quasi als Ausgleich besonders schöne und glückliche Momente. Kein Mensch ist nur glücklich und ich denke, ihr solltet diese Frage als guten Wunsch verstehen, der gar nicht unbedingt eine Antwort braucht (du weißt es ja meistens eben gar nicht). Ich denke Liebe und gemeinsame Zeit ist es, die das größte Glücklichsein ermöglicht… und die bekommen eure Kinder ❤️.

Schreibe einen Kommentar zu Anja Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert