Vom Klagen und Schimpfen

 

 

Vor circa einem Jahr war ich zu einer Gesprächsrunde  in einer Fachhochschule eingeladen – es war ein toller, lebendiger und für mich äußerst beeindruckender Abend. Und wie das bei Veranstaltungen an Hochschulen so ist, ging es darum, den StudentInnen die Möglichkeit zu bieten, sich mit einer bestimmten Thematik auseinanderzusetzen.

Da ich zu Besuch war, ging es natürlich um Behinderung, genauer gesagt, um das „Elternsein“ mit einem behinderten Kind.

Vor mir saßen eine ganze Menge junger Leute auf ihren ausklappbaren Hörsaalsitzbrettern. Sie alle hatten vor, beruflich einmal mit körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen zu arbeiten. Dementsprechend beteiligten sie sich engagiert, lebhaft und klug an der abendlichen Diskussion, die ihr nicht weniger engagierter Dozent leitete.

Der Abend war bereits fortgeschritten, ich hatte viel erzählt und noch mehr Fragen beantwortet. Da meinte der Dozent etwas ungeduldig, dass ich doch jetzt einmal etwas Kritisches äußern sollte. Irgendetwas, was mich an den „Helfenden“, an den entsprechenden Institutionen oder an der Gesellschaft störe. Damit sie etwas daraus lernen und es besser machen könnten! Ich sei in meinen Antworten und in meinem Buch diesbezüglich so – ich glaube, er sagte verständig, zugetan oder positiv. An das genaue Adjektiv kann ich mich nicht mehr erinnern.

An diese Bemerkung muss ich heute noch oft denken. Bin ich beim Schreiben zu unkritisch? Zu freundlich? Zu passiv?

Ich? Grundsätzlich bin ich nicht gerade eine in sich ruhende, völlig zufriedene, dankbare Person. Nein, und ich vermute, dass meine Familie mir den Vogel zeigen würde, wenn ich mich mit diesen Wörtern beschreiben würde.

Reg dich doch net so uff!“, heißt es da nicht selten zu mir.

Mein Leben kommt mir sehr wohl oft unheimlich schwer vor, ich fühle mich müde, erschöpft, ungerecht behandelt. An diesen Tagen würde ich gerne morgens einfach im Bett liegenbleiben oder auswandern. Für immer vor Langeoog  Krabben fischen, mit dem Campingbus um die Welt reisen, in Neuseeland eine Lämmerzucht betreiben, in Südtirol Bioäpfel anbauen, oder auf einer Alm in den französischen Alpen Camembert herstellen.

An diesen Tagen würde ich alles gerne machen. Alles bloß nicht das, was ich mache.

Und natürlich erlebe ich im deutschen Gesundheitssystem viele Dinge, die nicht gut laufen. Und das ist wahrscheinlich schon wieder viel zu milde ausgedrückt. Ich streite mit Versicherungen, mit dem Landratsamt oder mit sonstigen Behörden.

Zum Beispiel frage ich mich, warum und wozu es einen Medizinischen Dienst der Krankenkassen gibt? Und wie es sein kann, dass dort irgendwelche Sachbearbeiter, die Julius noch nie gesehen haben, seine Gesundheitssituation scheinbar besser einschätzen können, als all seine ihn behandelnden Therapeuten und Ärzte?

Ich kann dazu eine mich zum Krabbenfischen bringende kurze Geschichte erzählen:

Julius`  körperliche Unruhe, dieses unkoordinierte mit den Armen Hin-und-Her-Schlagen, sein nächtelanges Wachsein, sein lautes und anhaltendes Lachen, war lange Zeit ein Problem, das unser Familienleben ziemlich beeinträchtigt hat.

Letzten Sommer hatten wir deshalb bei unserer Krankenkasse eine sogenannte Sanddecke für ihn beantragt. Das ist eine Decke, die, wie der Name schon sagt, mit? Ja, genau: Sand gefüllt ist.

Es war eine Idee unseres Neurologen. Der Mediziner hatte die Erfahrung gemacht, dass Unruhezustände bei hirngeschädigten Kindern häufig durch ihre fehlende oder unzureichende  Körperwahrnehmung begünstigt werden. Das leuchtete uns sofort ein. Wie oft konnte Julius nur einschlafen, wenn ich  mich zu ihm -ja, fast auf ihn drauf- legte. Er liebt es einfach fest angefasst, heftig massiert und geknetet zu werden. Weil er sich dann nämlich spüren kann.

Wir probierten also die Beschwerungsdecke zunächst einmal für ein paar Monate aus (es war eine Leihgabe). Und es funktionierte!

Selbstverständlich war auch mit dem Gewicht von 12 kg Sand, Julius` Unruhe nicht „gut“ – aber besser. Und besser, ist bei uns schon ein Riesenerfolg.

Während dieser Zeit filmten und fotografierten wir Julius – ruhig schlafend unter der Decke liegend. Der Neurologe des Sozialpädiatrischen Zentrums schrieb einen langen Bericht zu dieser Erprobung, die dort angestellte Ergotherapeutin einen noch längeren.

Das ganze Material schickten wir mit einem üblichen Rezept für eine solche Decke an unsere Krankenkasse, die- wie immer- den Antrag sofort an den MDK weiterleitete.

Und was macht der? Er macht das, was er immer macht: Er lehnt natürlich ab.

Warum?

Die Decke sei nicht im Hilfsmittelkatalog verzeichnet, heißt es.  Ja, und? denkt man. Ist doch scheißegal, aber sie hilft!

Stattdessen schlug diese, mir das Leben schwer machende Begutachtungsstelle vor, es doch einmal bei Julius mit einer ergotherapeutischen Behandlung zu versuchen. Ahhh!!!, möchte man schreien. (Oder nach Neuseeland auswandern, nach Langeoog umziehen, oder noch besser: Camembert herstellen… )

Wichtig wäre noch zu erwähnen, dass sich die Kosten für eine Sanddecke auf circa 200€ belaufen – das sind Peanuts in der Hilfsmittelkatalogwelt.

Natürlich hätten wir die Decke aus eigener Tasche finanzieren können! Wir haben das Glück, dass wir sie uns leisten könnten. Aber im Leben geht es doch manchmal sehr wohl nur um das Prinzip! Weil sich sonst nichts ändert und alles beim Alten bleiben würde.

Letztendlich hatten wir ein Sanddecken-Happy-End. Unsere Krankenkasse hatte in einer absoluten! und einmaligen! (doppelte Betonung) Einzelfallentscheidung ein Einsehen – sie hat sich dem Rat des Medizinischen Dienstes widersetzt .

Aber trotzdem. Wegen dieser Sache wäre ich gerne mal wieder zur einsamem Käsemacherin geworden. Vor allem, als ich mir bewusst gemacht habe, dass sich der MDK aus Kranken- und Pflegekassenbeiträgen finanziert.

Jawohl, ich kann fürchterlich wütend werden! Ich kann mich über sehr vieles aufregen. Über die Politik, die nichts tut, um den Pflegeberuf bei Schulabgängern wieder attraktiv zu machen.

Ich ärgere mich über die Müllberge, für die sich scheinbar niemand interessiert und über Menschen, die narzisstische Schreihälse wählen. Schreihälse, die vermeintlich einfache und schnelle Lösungen propagieren. Als ob es einfache Lösungen für komplexe Zusammenhänge geben könnte.

Und doch:

Ich fühle mich hier in diesem Land gut aufgehoben. Wir werden nicht ausgegrenzt oder schlecht behandelt. Manchmal starren uns andere an, wenn wir mit unserem Monsterbuggy durch die Gegend fahren. Aber ehrlich gesagt, ich glotze oft genug auch andere „behinderte Familien“ an. Natürlich. Weil ich Mitgefühl verspüre, Interesse, oder ja, vielleicht auch manchmal irritiert bin.

Ich weiß noch ungefähr, was ich an jenem Abend an der Fachhochschule geantwortet habe:

Vielleicht ist das „weniger über andere Schimpfen“  ein Ergebnis meiner Psychoanalyse?, meinte ich. Mein Buch ist schließlich während meiner Therapiezeit entstanden.

Und da musste ich anfangen, zu akzeptieren, dass alles, was mich am anderen stört, letztendlich immer etwas mit mir zu tun hat. Mit Eigenschaften, die ich an mir ablehne, die ich nicht wahrhaben möchte, die ich nicht leiden kann, oder ja, die mir sogar Angst machen.

Und ich musste lernen, dass die Welt nicht auf mich gewartet hat und mir deshalb auch nichts auf direktem Wege von oben oder sonst irgendwoher in den Schoß fällt.  (Das ist eine sehr kurze Kurzfassung meiner psychoanalytischen Therapieerkenntnisse).

Wenn ich unzufrieden und frustriert bin, hat das meistens etwas mit mir selbst zu tun. Häufig kann weder Julius, Tom, mein Mann, der Pflegedienst, oder, ach du meine Güte, womöglich die Gesellschaft etwas dafür.  Oft genug schiebe ich zwar zuerst der Umwelt die Verantwortung für meine schlechte Laune in die Schuhe. Bis ich irgendwann merke, dass der eigentliche Grund ganz woanders sitzt. Nicht irgendwo in meiner Umgebung.

Sondern mitten in mir drin.

Ich finde, wir (meine Familie und ich) können mit all der Unterstützung die wir bekommen, das Beste aus unserer Situation machen. Und wir haben die Chance, immer weiter an Toleranz, Integration und Offenheit zu arbeiten. Wir können uns zeigen, können auf uns aufmerksam machen, haben die Möglichkeit mitzureden und zu widersprechen. Wir haben eine Stimme und können eine sein – für die Menschen, die keine (mehr) haben.

Wut und Ärger sind wichtig, ohne sie würde sich niemals etwas ändern. Sie dienen als Antrieb, sind unser innerer Motor, unsere Energiequelle, das „Red Bull“ des Lebens sozusagen. Und trotzdem finde ich es wichtig, die Wut zu hinterfragen. Nicht blindlings darauf los zu wettern, zu klagen und zu schimpfen.

Denn eines ist sicher: Meine Wut hat immer auch etwas mit mir selbst zu tun.

 

5 Gedanken zu „Vom Klagen und Schimpfen

  1. Ah, das Gewichtsdeckenproblem. Wir sind da auch noch dran…ich hoffe, wir kriegen sie auch noch bewilligt. Ja, Camembert herstellen wäre manchmal wirlich eine sehr interessante Alternative.

  2. Danke für diesen Bericht, der mit soviel Reife und Lebensweisheit durchdrungen ist.
    Alles Gute und viel Kraft weiterhin.

Schreibe einen Kommentar zu Nadja Mohr Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert