Brief an Tom

Mein lieber kleiner Sohn. Heute Nacht lag ich wach im Bett und musste so sehr an Dich denken. Du hast noch alles vor Dir. Dein ganzes Leben. Und wie schon so oft, frage ich mich, was will ich Dir mitgeben, auf Deinen Weg des Daseins? Was ist es, was wirklich zählt im Leben? Was will ich Dich lehren?

Dass Du immer brav Deine Hausaufgaben erledigen sollst? Dass Du zu den Großen immer schön freundlich bist? Und machst, was SIE sagen? Dass Du Regeln befolgst, nicht aus der Reihe tanzt?

Sind es diese Dinge, die uns durch schwere Zeiten tragen? An die ich mich mit Freude erinnere und die in mir leuchten, auch wenn es draußen stockdunkel ist?

Schneetropfen

Niemals!

Ich weiß nicht mehr, wann oder ob ich überhaupt Einser geschrieben habe. Diejenigen Male, die Sie mich gelobt haben, weil ich „brav“ gewesen war, haben keine tiefen Spuren in meiner Seele hinterlassen.

Nein, ich will Dich lehren, bei 16 Grad Wassertemperatur und Regen in der Nordsee zu baden. Mitten in der Nacht aufzustehen und mit Stirnlampen einen hohen Berg zu besteigen. In der Dunkelheit über Zäune zu klettern, um im städtischen Freibad ins Wasser zu hüpfen. Nach einem Marathon am Ende deiner Kräfte durch das Ziel zu kriechen. Bei einem Sommergewitter barfuß im Regen zu tanzen. Dich mit lautem Geschrei in Tiefschnee zu werfen. Im August eine ganze Nacht auf einer Wiese zu verbringen und alle Sternschnuppen zu zählen. Nachts durch das Fenster abzuhauen, um Dich mit Deiner ersten Liebe zu treffen. Bei Windstärke 7 auf einem Hobie-Cat zu segeln. Bei Sturm am Deich spazieren zu gehen und Dich in den Wind zu legen. Sicher an einem Seil über einem steilen Bergabhang zu baumeln und die Geburten Deiner Kinder mitzuerleben.

PutitwagensachrangSind nicht das die Momente, an denen ich mich wirklich lebendig gefühlt habe? Die verlässlich in mir blühen, auch wenn vielleicht irgendwann das Äußere verdorrt ist?

Also, mein Sohn, wenn ich Dich das nächste Mal ermahne und rüge, weil Du wieder einmal nicht anständig gewesen bist, hoffe ich so sehr, dass Du es spüren kannst. Dass diese Belehrungen bedeutungslos sind aber trotzdem unerlässlich. Denn ohne sie, könnten all die wahrhaft wichtigen Dinge niemals ihre volle Kraft entfalten.

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