Manchmal, oder nein, ich glaube es ist momentan eher öfter, weiß ich nicht, wohin ich, wohin wir als Familie in dieser Gesellschaft gehören.
Wie ich das meine?
Wir haben ein schwer behindertes Kind. O.k., ist klar, könnte man sagen: Da gibt es doch die Behindertenwelt! D.h., zahlreiche Institutionen, tolle Vereinigungen, Verbände, Organisationen, die sich für die Rechte von behinderten Menschen einsetzen. Und alle reden von Inklusion, Inklusion, Inklusion! Es tut sich so unheimlich viel in unserer Gesellschaft. Sie wird offener, „bunter“, sie hat sich das Ziel gesetzt, dass jeder Mensch, egal ob behindert oder nicht, überall dabei sein kann. Es ist ab jetzt normal verschieden zu sein.
Ist es das?
Wir haben schon so vieles erreicht, sagen die einen. Schon allein die Umbenennung der wohl größten deutschen Förderorganisation von „Aktion Sorgenkind“ in „Aktion Mensch“ zeigt ein „gesellschaftliches Umdenken“.
„Aktion Mensch“ ist ein viel schönerer Name, wie ich finde. Lag früher der Fokus auf dem Negativen, der Sorge, so hat sich der Blick jetzt geweitet. Der einzelne Mensch an sich, in seiner Individualität und Gesamtheit soll Beachtung erfahren. Eben nicht nur die mit ihm verbundene Sorge.
Könnte man meinen.
Wenn ich auf die Internetseiten dieser größten deutschen Förderorganisation schaue, fällt mir folgendes auf: Ich lese von gelungenen Inklusionsprojekten und sehe erfolgreiche, lachende Menschen mit einer Beeinträchtigung, sei es im Sport, im Bildungswesen oder in anderen Bereichen. Und klar, die gibt es! Ich finde es beeindruckend und Mut machend, was manche Menschen alles hinkriegen – egal, ob mit oder ohne Behinderung.
Es ist etwas anderes, was mich nachdenklich macht. Man zeigt, was alles möglich ist: trotz Behinderung. Man postet glückliche, strahlende, schöne Menschen. Wie überall. In der Behindertenwelt sowie in der Nichtbehindertenwelt.
Um dem Ziel der Inklusion näher zu kommen, macht man in den Medien hauptsächlich auf die erfolgreichen Menschen mit Behinderung aufmerksam.
Behindert? Egal, wenn…Wenn man erfolgreich, attraktiv und lustig behindert ist!
Und das ist es ja gerade: Warum sollte man denn nicht attraktiv, erfolgreich und spaßvoll mit einer Behinderung sein? Natürlich! Schon allein die Tatsache, dass man mit diesem Zusammenspiel, also Erfolg und Handicap, werben muss, zeigt doch, wie eine „Gesellschaft“ womöglich tatsächlich darüber denkt.
Warum hat man so große Angst davor, auch die „schweren“ Seiten einer Behinderung anzusprechen? Warum versucht man krampfhaft ein durchweg positives Bild von Behinderung in einer Gesellschaft zu verankern?
Vermutet man, eine Gesellschaft nur so für behinderte Menschen öffnen zu können, indem man die Probleme, die Sorgen und das Leid (das damit in manchen Fällen) zusammenhängt verschweigt?
Ich bezweifle es.
Alter, Behinderung, Krankheit und Tod, ja das LEBEN sind meines Erachtens Themen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Ich glaube nicht, dass man sie „per se“ als völlig normal ansieht. Und eine Auseinandersetzung ist ein Prozess. Und bei einem Prozess geht es vorwärts und rückwärts, manchmal auch seitwärts und ab und zu steht er still.
Ich bin am Anfang dieses Prozesses erst einmal gefallen. Hinein, in ein riesengroßes Loch. Ein Loch, angefüllt mit einer zähflüssigen Masse aus Schmerz.
Und der Schmerz ist immer noch da. Verändert zwar, aber anwesend. Wahrscheinlich bleibt er. Mein Leben lang. Aus meinen Gesprächen mit anderen „betroffenen“ Müttern und Vätern weiß ich, dass es selbst dann noch „weh tut“, wenn das Kind („trotz“ seiner Behinderung) tatsächlich ein relativ selbstbestimmtes Leben führen kann.
Und ich finde, dass dieser Schmerz und diese Trauer auch einen Platz und eine Anerkennung brauchen. Ich mache die Erfahrung, dass Eltern oft damit alleine gelassen werden. Nicht nur das! Sie haben sogar mit Schuldgefühlen zu kämpfen, wenn sie diesen Schmerz erleben. Oft trauen sie sich nicht einmal, ihren Zweifel auszusprechen oder ihn nur zu denken. Und das auch deshalb, weil ein moralisches Bild in unserer Gesellschaft aufgebaut wird, „Behinderung“ an sich und uneingeschränkt als etwas „Normales“ und auf keinen Fall als etwas „Schlimmes“ anzusehen.
Für Eltern ist es schlimm! Es ist unermesslich schlimm! Zunächst! Und ich finde, diese Tatsache darf nicht unter den Tisch gekehrt werden.
Das heißt überhaupt nicht, dass sich aus dieser anfänglichen Trauer, kein tiefer erfülltes Leben entwickeln kann. Nein, überhaupt nicht.
Aber es braucht Zeit.
Vielleicht bin ich heute, vier Jahre nach unserem „Schicksalsschlag“, tatsächlich glücklicher (oder sagen wir zufriedener, das Wort „glücklich“ ist so abgedroschen), als vor Julius` Geburt. Aber das bin ich nicht deshalb, weil wir ein behindertes Kind bekommen haben. Nein, sondern, weil dieses Ereignis einen Entwicklungsprozess in mir ausgelöst hat. Der war sehr schmerzhaft. Unglaublich schmerzhaft. Aber so ist das nun mal mit Entwicklungen und Veränderungen. Sie tun weh.
Mein Leben ist irgendwie tiefer geworden. Erfüllter. Vielleicht ist es deshalb erfüllter, weil ich es angefüllt habe? Angefüllt mit einer Menge an Gefühlen. Mit Schmerz, Leid, Wut und auch Angst – neben der Freude und der Zufriedenheit. Ich habe also quasi die unterschiedlichsten Gefühle in mir integriert. Ganz im Sinne des Inklusionsverständnisses! Keines soll mehr ausgegrenzt werden!
Noch einmal zurück zur Inklusionswerbestrategie. Ich denke, jeder Einzelne ahnt, dass ein Leben mit Behinderung nicht so „problemlos“ und „glücklich“ verläuft, wie man in manchen Werbespots zum Thema Inklusion den Eindruck gewinnen könnte. So verläuft doch auch nicht das Leben eines Nichtbehinderten! – obwohl er womöglich das größte Glück auf Erden erfährt: nämlich gesund zu sein.
Vor ein paar Tagen kam die Meldung im Radio, dass es keinerlei Einfluss auf das Rauchverhalten hat, wenn schreckliche Todesnachrichten und abstoßende Fotos auf den Zigarettenpackungen zu sehen sind. Werbung mit einem „extremen“, einem „ausschließlichen“ Symbol wirkt nicht. Egal, ob ich Schockbilder zeige, oder eine „heile“ Welt.
Man wünscht sich als Eltern ein gesundes Kind. Kein behindertes. Punkt. Da hilft es nichts, wenn ich in einem Werbefilm von Aktion Mensch vor Freude strahlende behinderte Kinder sehe.
Wie aber kann man denn nun erreichen, dass sich Menschen mit dem Thema Krankheit, Tod und Behinderung sinnvoll auseinandersetzen? Wie kann man eine „Gesellschaft“ dafür öffnen?
Offenheit von anderen erfahre ich nur, wenn ich mich selbst öffne.
Das bedeutet, dass ich nichts „schönreden“ darf. Deshalb glaube ich, dass es für eine Inklusion im wahrsten Sinne! viel sinnvoller wäre, wenn sich eine Gesellschaft wieder tatsächlich mit dem Menschen beschäftigen würde. Und zwar mit dem ganzen. Und wenn ich den ganzen Menschen betrachte, dann muss ich neben der Freude, der Kreativität, der Lebenslust eben auch die Trauer, den Schmerz und das Leid anerkennen. Das gehört letztendlich zu jedem Menschen dazu, zum Gesunden sowie zu jedem „Eingeschränkten“.
Ich frage mich oft, warum ich mich, wenn gesellschaftlich über das Thema Inklusion diskutiert wird, überhaupt nicht angesprochen fühle? Wir sind doch die Betroffenen! Es geht doch um unseren Sohn? Oder nicht?
Ich denke, mittlerweile kenne ich die Antwort.
Es sind Sätze wie diese, die nichts mit meiner Realität zu tun haben: „Unser Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderung überall dabei sein können, dass sie die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu leben und ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen können“ (Aktion Mensch, Das WIR gewinnt).
Was ist mit den Menschen, die keinerlei „Fähigkeiten“ (Fähigkeiten, so wie wir das Wort in unserer Gesellschaft verstehen) besitzen? Die eben ja gerade keine Leistung bringen können? Die ausschließlich auf Hilfe angewiesen sind?
So wie unser Sohn Julius?
Für diese Menschen gibt es die (so wichtige! wie ich finde) Hospizbewegung, kann man sagen. Aber bedeutet das eben nicht auch, dass es unterschiedliche „Behinderte“ gibt? Eben die, die Fortschritte machen (seien sie auch noch so klein!), Leistung bringen, Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Und diejenigen, die „Stillstehen“ oder wie Julius gar „Rückschritte“ machen?
Man könnte daraufhin die Überlegung anstellen, dass man trennen müsste in die „lebendigen, leistungserbringenden Behinderten“ und die „todgeweihten“ Behinderten. Die einen finden einen Platz in der Inklusionsgesellschaft, die anderen im Hospiz. Das wäre aber meines Erachtens so, als ob man Tod und Leben auseinanderreißen wollte.
Wäre es nicht wichtig, bevor wir eine Diskussion über Inklusion in der Gesellschaft führen, zunächst erst mal wieder einen Schritt zurückgehen? Nämlich zurück zu jedem Einzelnen? Ist nicht jeder Einzelne „die Gesellschaft“? Müssten wir nicht alle schauen, in wieweit wir bereit sind, alle Facetten des Menschseins zu leben? Können wir Schwäche, Trauer, Zweifel, Hilfebedürftigkeit annehmen und zeigen? Und können wir uns ehrlich und offen mit Krankheit, Angst und letztendlich mit der Begrenztheit des Lebens, dem Tod auseinandersetzen? Genau das würde ich unter einer „Aktion Mensch“ verstehen! Dann betrifft Inklusion tatsächlich jeden! Jeden einzelnen Menschen. Ich bin der Meinung, wenn sich jeder Einzelne wieder mehr mit Gefühlen wie Angst, Trauer, Wut, Frust, Schmerz, auseinandersetzen und diese auch leben könnte, dass er dann auch seinen Mitmenschen viel offener begegnen würde .
Und wenn wir Inklusion unter diesen Aspekten diskutieren würden, dann, ja dann wüsste ich auch wieder, wo mein Sohn und ich, wo wir als Familie hingehören!
Liebe Gabi, dieser Beitrag hat mich auch tief berührt! Auch unser Sohn ist schwer krank und hat mehrere Handicaps und ich frage mich immer wieder wie ich diese Parallelwelten in Einklang bringen kann und den Schmerz gut tragen kann, den diese Herausforderung mit sich bringt. DANKE und alles Gute für Ihren Julius! Auch Ihr Buch habe ich in einem Zug gelesen und mich in vielem wiedergefunden! Auch Ihnen alles Gute auf Ihrer Reise, Liebe Grüße, Barbara
Liebe Barbara, Danke für Deine Mail und Deine Wünsche! Auch für Euch alles, alles Gute! LG Gabriele
Liebe Gaby (darf ich dich so nennen?), ich lese gerade dein Buch und finde es gaaanz toll. Ich lerne viel für meine Arbeit mit behinderten Kinder und deren Eltern und auch für das Leben. Katja
Liebe Katja, ja, klar! Sehr gerne darfst Du Gabi sagen! Schön, dass Du Dich meldest – da freue ich mich! Herzliche Grüße!
Sie sprechen mir aus der Seele!
Ich bin absoluter Inklusionsanhänger, aber ich glaube es wird noch ein langer Weg hin zur wirklichen Inklusion. Und dafür muss der Staat mehr Geld in die Hand nehmen und auf den unterschiedlichesten Ebenen in der Gesellschaft ansetzen.
Die Inklusion der Angehörigen wird – so empfinde ich es – oft nicht beachtet. Ich habe lange gedacht es liegt an mir und ich muss schmerzresistenter werden oder meinen Blickwinkel ändern. Aber Fakt ist einfach, dass es weh tut wenn man sein behindertes Kind unter all den gesunden sieht. Und Fakt ist auch, dass man kaum gemeinsame Themen hat mit den anderen Müttern, die nur nicht behinderte Kinder haben. Man lebt in einer Art Parallelwelt die nur sehr wenig Überschneidungsbereiche bietet. Der Alltag sieht meist auch komplett anders aus. Und auch wenn man sich noch so sehr anstrengt manche Dinge gehen einfach nicht mit einem schwerbehinderten Kind trotz
bester Hilfsmittel. Gerade im Freizeitbereich empfinde ich das oft als ausgrenzend. Nur weil man bei etwas dabei ist gehört man nicht automatisch dazu. Und so landet man dann doch oft wieder im geschützten „Behindikreis“ und damit meilenweit weg von der Inklusion in die Gesellschaft.
Liebe Isis, Danke für Ihren ehrlichen und offenen Beitrag! Herzliche Grüße! Gabriele Noack
Der Bericht über Inklusion ist so absolut treffend formuliert und ausgedrückt, ich bin da voll und ganz ihrer Meinung!
Letztes Jahr, als mein Sohn eingeschult wurde, war es Vorschrift 3 Gespräche über mich ergehen zu lassen, in denen ich jeweils aufgeklärt wurde, dass Manuel auch die Regelschule im Ort mit einer Integrationskraft besuchen könne. Ich frage mich an dieser Stelle, wem damit geholfen wäre, wenn ein Kind, das Sauerstoffpflichtig ist, auf ein Absauggerät angewiesen ist, über eine PEG ernährt wird und ständig mit einer Tasche voller Notfallmedikamente unterwegs ist, das selbstständig nicht mal einen Arm bewegen kann und alle 30 Minuten umgelagert werden muss, eine Regelschule besuchen würde.
Aber so ist es wohl im Rahmen der Inklusion, dass es nicht ausreicht, wenn ich einmal sage, mein Sohn wird die Schule in der Einrichtung besuchen, wo er auch bisher schon im Kindergarten war, wo alles auf seine Bedürfnisse und die der anderen Kinder aufeinander abgestimmt und angepasst werden können.
Lg Nicki
Liebe Nicki, Danke, dass Sie aus Ihrem Alltag berichten! Ich denke, wir müssen offen über unsere Situationen sprechen und uns „zeigen“. Ich erlebe ebenfalls oft, dass unser Umfeld einfach gar nicht weiß, was für Julius oder für uns wichtig ist. Und woher sollen die anderen es auch wissen? Ich habe mir vor Julius`Geburt unter „Behinderung“ auch etwas anderes vorgestellt. Weil ich zuvor noch nie mit schwer kranken Kindern in Berührung kam. Danke für Ihre Mail und herzliche Grüße an Sie! Gabriele Noack
Auch ich bin Mutter eines behinderten Mädchens. Ich habe bereits ihr Buch gelesen und gemerkt, dass sie die Dinge sehr oft so treffend beschreiben! Ich konnte herzlich lachen wie auch hemmungslos weinen, da mir soviel so bekannt vorkam! Auch dieser Artikel trifft es genau, einfach perfekt dass sie immer die richtigen Worte finden.
Liebe Stephie, toll, dass Sie sich einlassen konnten auf mein Buch! Und Danke, dass Sie sich melden! Ganz liebe Grüße an Sie! Gabriele Noack
Das sind auch meine Gedankengänge! Gut, wenn sie jemand treffend aussprechen kann!
Liebe Maria,
schön, dass Sie schreiben! Danke! LG Gabriele Noack
Liebe Gabi,
Dein Blog hat mich tief berührt! Und er kommt genau zur richtigen Zeit.
Liebe Grüße Katharina
Liebe Katharina, schön, dass Du ihn entdeckt hast und mich hier besuchst! Herzliche Grüße Gabriele
Absolut aus meinem tiefsten Herzen gesprochen! DANKE!!!!