Von den Nischen und Ecken im Leben

 

BlumeimStein

 

Neulich fragte mich eine alte Schulfreundin, die mich nach langer Zeit einmal wieder besuchte, wie eigentlich Tom mit unserer Situation klar komme. Ich höre sie oft, die Kommentare, dass es sicherlich für unseren großen Sohn schwer sei, mit einem behinderten Bruder aufzuwachsen, er wahrscheinlich auf viel verzichten müsse, er womöglich weniger Beachtung erfahre, weil man doch viel weniger Zeit für ihn habe. Und ja, es stimmt. Es gab gewiss Zeiten, in denen Tom unter unseren manchmal chaotischen und traurigen Familienbedingungen gelitten hat.

Und heute? Jetzt? Jetzt sind da zum Beispiel die vielen Menschen, die tagtäglich unser Haus betreten. Die Krankenschwestern, die Hospizdamen, die Hilfsmittelberater. „Ich könnte das nicht! Immer jemand im Haus. Das ist ja schrecklich!“ Auch das höre ich häufig, wenn ich davon erzähle. Und ja, seit Julius auf der Welt ist, habe ich das Gefühl, wieder in einer Wohngemeinschaft zu leben – wie in längst vergangenen Studententagen. Und manchmal würde ich zuhause gerne nur meine Ruhe haben, niemanden sehen und hören, alleine sein und nicht über Medikamentenumstellungen, die heutige Kalorienzufuhr oder das aktuelle Krampfverhalten unseres Sohnes sprechen.  „Und wie ist das für Tom?“ fragt mich mein Umfeld wieder. Und mein schlechtes Gewissen regt sich. Muten wir ihm nicht doch zu viel zu? Ist unser Zuhause nicht viel zu unruhig für ihn?

Immer wenn ich schreibe, ziehe ich mich in mein Zimmer zurück (na ja, es ist eher eine Ecke im Schlafzimmer, also, muss es eher heißen,  ich ziehe mich in „meine Ecke“ zurück). Wie jetzt gerade. Und vor ein paar Minuten war ich kurz unten in unserer Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Da saß die Krankenschwester mit einem Kinderbuch auf dem Sofa – Julius in seinem Therapiestuhl daneben. Der Sensor des Überwachungsmonitors flackerte fröhlich rot an seinem großen Zeh. Und wer lag in der Ecke? Tom mucksmäuschenstill, weil er wie Julius der Geschichte der Krankenschwester lauschte.

Auf meinem Schreibtisch neben dem Laptop liegt eine Einladung für eine Oldtimerrallye auf der legendären Rennstrecke am Solitudering in Stuttgart, die im Sommer stattfinden soll.  Dabei dürfen die Kinder in historischen Fahrzeugen, wie ein Mercedes Ponton aus dem Jahr 1956 mitfahren, lese ich.  Mir sagt das ja nichts, aber Michael bekam beim Anblick des Anschreibens ziemlich große Augen. Es ist mal wieder eine Benefiz -Veranstaltung für Familien mit schwer kranken Kindern. Eine von sehr vielen.  Ich bin berührt, wie oft wir von Vereinen zu solchen meist ehrenamtlichen Festivitäten eingeladen werden.   Die „Dreamnight“  in der Wilhelma ist noch gar nicht lange her – dieser wunderschöne Abend im Stuttgarter Zoo – und ist auch weiterhin Gesprächsthema bei uns.

„Weißt Du noch Mama, wie ich die Schlange gestreichelt habe?

„Ja, Tom, ich weiß es noch. Das war super, gell!“

Vor kurzem ist Tom bei einem Fest des Hospizdienstes mit einem Hubschrauber geflogen und ein paar Wochen später durften unsere beiden Kinder im Stuttgarter Flughafen hinter die Kulissen schauen (na ja, Tom  hat geschaut, Julius hat den ganzen Nachmittag im Valiumrausch verschlafen). Im Herbst habe ich Tom für ein Wochenende auf eine „Geschwisterkinderfreizeit“ im Chiemgau angemeldet. Mit Klettern, Reiten und allem, was ein Kinderherz höher schlagen lässt. Das sind alles Aktivitäten, die er nur erleben kann, weil er in einer besonderen Familiensituation aufwächst. Und Tom findet alles klasse. Er will überall dabei sein.  Er freut sich einfach über solche spannenden Angebote.  Ob er sie als eine Art „Nachteilsausgleich“ für weniger Beachtung im besonderen Familienalltag mit einem behinderten Bruder sieht, wage ich zu bezweifeln.

Ist denn für Tom unsere Familie überhaupt „besonders“? Sie ist es für uns Erwachsene, ja.  Weil wir uns unser Familienleben anders vorgestellt haben. Aber ist sie es auch für Tom? Tom kennt ja schließlich nichts anderes.  Er sucht sich seine Nischen (oder besser gesagt,  seine Ecken auf dem Sofa) pickt sich das heraus, was ihm gefällt.

Ab und zu darf Tom  nachts bei der Krankenschwester und Julius im Zimmer schlafen.  „Das ist so toll, Mama, wenn die ganze Nacht jemand auf einen aufpasst“, sagt er.  Als wir im letzten Jahr im Hospiz waren, schrie er nach ein paar Tagen glücklich: „Hier ist das Paradies!“.  Er meinte das kleine Hallenbad mit seinem 36 Grad warmen Wasser, das riesengroße Indoortrampolin, die Küche, die jederzeit offen stand und man sich leckere Getränke holen durfte, den Aufenthaltsraum, in dem immer irgendjemand bis spät in die Nacht saß, mit dem man UNO spielen konnte, die Betreuer, die Schwestern, die man ständig um etwas bitten durfte, das Spielzimmer, mit all den tollen Sachen.  Ja, da gab es viele kranke Kinder und am ersten Tag fanden Tom -und wir auch-  die direkte und knallharte Konfrontation mit Krankheit und Tod sehr befremdlich. Keine zwei Tage später war das kollektive Rauschen der vielen Ernährungspumpen beim gemeinsamen Essen nichts Außergewöhnliches mehr.

Es ist die kindliche Offenheit, von der ich so gerne öfter etwas abhaben möchte. Dieses einfache „Annehmen“  ohne groß nach dem Warum und Weshalb zu fragen. Diese Offenheit beinhaltet so vieles. Sie ermöglicht es, sich Ecken und Nischen im Leben zu suchen und sich darin einfach nur wohl zu fühlen. Sie erlaubt das „Schöne“ zu sehen und nicht so sehr das, was vielleicht anders läuft, als wir es uns vorgestellt haben.

Was soll ich also darauf antworten, wenn ich gefragt werde, wie Tom mit unserer Familiensituation zu Recht kommt? Wahrscheinlich kommt er genauso gut oder schlecht zu Recht, wie es seine Eltern eben tun. Und wir, ja wir haben unsere Höhen und Tiefen wie jede andere Familie auch. Mal sind wir zusammen ausgelassen, ein anderes Mal werfen wir uns wütende Blicke und Worte zu, ab und an wissen wir nichts miteinander anzufangen, um dann wieder in liebevolle Diskussionen zu verfallen. Ein Familienleben bietet nun einmal die verschiedensten Seiten. Mit oder ohne behindertem Kind.

Aber ich weiß, wenn ich unsere Welt (in der es viele Ecken und Nischen gibt) häufiger so wie Tom, mit einer kindlichen Unbefangenheit betrachten könnte, wäre ich es, die sie noch viel mehr zu schätzen wüsste.

2 Gedanken zu „Von den Nischen und Ecken im Leben

  1. Liebe Gabi, die Kinder sehen die Welt, wie sie ihnen gefällt. Und Tom gefällt sie so, wie sie ist. Er denkt gar nicht daran, dass sein Bruder „anders“ ist, und das ist auch gut so. Ich erlebe es auch sehr oft, wie unterschiedlich Kinder und Erwachsene auf meinen Sohn reagieren und bin doch positiv überrascht und happy, mit welch einer Unbeschwertheit die Kinder auf Paul zugehen, im Gegensatz dazu die Erwachsenen, die doch eher ein mitleidiges Gesicht aufsetzen. Mich stört das alles nicht, da ich mit einem Lächeln versuche, auf alle Fragen einzugehen und so tue, als wenn es das normalste von der Welt wäre. Wenn wir bei unserer Familie zu Besuch sind, freuen sich alle auf Paul. Am meisten meine beiden Nichten, die mir schon ganz oft sagten, wie lieb sie den Paul haben. Da geht mir dann immer das Herz auf.
    Liebe Grüße Simone

  2. Ich glaube dass Tom extrem davon profitiert, nicht nur im Sinne von Ausflügen & Co. 😉 Soziale Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein, das sind Dinge die so wertvoll sind! Tom, du bist Spitze!! Behalte deine erfrischende Art bei!!

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