Gestern kam wieder einer. Mittags habe ich ihn aus dem Briefkasten gezogen. Er war wie immer zweimal gefaltet und steckte in einem dieser länglichen Briefumschläge mit Sichtfenster. Erkannt habe ich ihn sofort am Stempel des Klinikums.
Jedes Mal, wenn ich mit Julius einen Arztbesuch hinter mir habe, flattern sie ins Haus. Also regelmäßig. Ungefähr so regelmäßig, wie Telefonrechnungen, Gebührenbescheide, Versicherungsnachweise. Und trotzdem. Ich hasse diese Briefe. Oft lese ich sie gar nicht mehr, loche sie nur und hefte sie sofort in unseren dicken, nein fetten Aktenordner mit der Aufschrift Befunde Julius.
Gestern habe ich mal wieder einen gelesen. Ich las die ganzen Diagnosen, die Entwicklungsanamnese, Untersuchungsbefunde, die Beurteilungen.
Und ich weinte.
Warum denn das? Seit fast vier Jahren halte ich solche Briefe in den Händen. Alles, was auf diesem Blatt Papier steht ist nichts Neues. Es sind Begriffe, Formulierungen, die Julius schwere Erkrankung umschreiben. Ich kenne sie alle, in den unterschiedlichsten Ausprägungen oder Variationen wehen sie mir seit langem um die Ohren. Und doch schmerzt dieser Brief. Dabei ist er nichts als eine Tatsache. Nicht mehr und nicht weniger. Eine unabdingbare Tatsache, die ich dachte, akzeptiert zu haben, mit der ich lebe. Gut lebe. Ja, sogar ganz glücklich lebe.
Unsere menschliche Existenz beinhaltet nun einmal erbarmungslose Wahrheiten. So ist das Leben. Realitäten lassen sich nicht verändern. Wir können sie nicht verbiegen, nicht klein hacken, nicht umformen, kein bisschen verwandeln. Sie sind härter als Diamant, schlichtweg unverwüstlich. Sie erschüttern, schmerzen, quälen uns manchmal.
Die unfassbarste aller, ist wohl der Tod.
Dieser Arztbrief ist also eine reine Tatsache. Er ist meine, unsere Realität. Nicht zu widerlegen und doch unfassbar so wie das Ende eines Lebens, das jedem Einzelnen von uns bevorsteht.
Und dann frage ich mich, wie es wäre, wenn man monatlich von irgendeiner höheren Macht einen Brief zugestellt bekäme, eine Mitteilung, die einem den eigenen Tod attestieren würde. So regelmäßig wie wir diese Diagnoseberichte erhalten. Es wären auch nur Tatsachenberichte, nicht mehr und nicht weniger. Schwarz auf weiß.
Wie würde es sich wohl anfühlen? Wahrscheinlich würde ich bereits den zweiten Brief in die Ecke pfeffern, leise „Scheiß drauf“ murmeln, mir erst mal ein Bier aus dem Keller holen, und mir endlich mal wieder eine Zigarette anzünden.