Die Zeit vergeht wie im Fluge.
Mittlerweile habe ich meine Wanderstiefel wieder in den Keller gestellt, aus der Luftmatratze haben wir den Stöpsel gezogen und die Koffer sind im Schrank verstaut.
Unsere Ferien sind zu Ende.
Nun, was gibt es zu berichten?
Ich habe mir eine neue Fotokamera zugelegt! Es ist eine ziemlich gute Kamera, mit vielen Möglichkeiten. Viel zu vielen. Wie es eben so ist heutzutage.
Der neue Fotoapparat war also in diesem Urlaub fast immer mit dabei. Und während ich so „am digitale Fotos produzieren“ war, sind mir dazu einige reale Bilder und Szenen aus früheren Zeiten durch den Kopf gegangen.
Ich musste zum Beispiel an einen Bergurlaub denken. Ich war vielleicht Mitte Zwanzig und mit meinem damaligen Freund in den Dolomiten unterwegs. Eines Tages befanden wir uns bei einer Tour ziemlich weit oberhalb der Baumgrenze und sind dort vom Weg abgekommen. Nachdem wir keinen markierten Pfad mehr finden konnten, entschieden wir uns, in einer schmalen Felsscharte vorsichtig nach unten abzusteigen. Nach vielleicht knapp 100 Höhenmetern begann sich plötzlich der Untergrund zu lösen. Das ganze Gestein war brüchig, löste sich, und rutschte ins Tal, kaum, dass wir es mit unseren Schuhsohlen berührt hatten. So erging es uns bei jedem Schritt. Weil der Hang sehr steil war, wurde uns irgendwann bewusst, dass wir höchstwahrscheinlich bei einem unserer nächsten Tritte mitschlittern würden.
„Wir schaffen das womöglich nicht“, meinte mein Freund damals zu mir. Ich bekam Panik, mir kamen die Tränen währenddessen ich krampfhaft versuchte, mich vorsichtig, federleicht und langsam zu bewegen. Genau in diesem Moment zerrte mein Begleiter unsere analoge Fotokamera, eine alte Konica, in der ein 36er-Film steckte (das Wort Digicam hatten wir damals noch nie gehört) aus seiner Hosentasche und begann zu knipsen.
„Hast Du Sie noch alle? Bist Du völlig übergeschnappt?“ schrie ich ihn an. Ich dachte, jetzt ist er durchgedreht. Ich hatte furchtbare Angst zu Sterben und er hatte noch Nerven zum Fotografieren?
„Das sind wahrscheinlich die letzten Minuten unseres Lebens. Die will ich festhalten“, meinte er. Er lachte nicht dabei.
Es waren nicht die letzten. Wir sind heil auf sicherem Boden angekommen. Ich glaube, damals ist uns nicht nur ein Stein vom Herzen gefallen, sondern mindestens so viel Geröll, wie wir in unserem circa zweistündigen Abstieg losgetreten hatten.
Das Foto gibt es noch. Und ich bin tatsächlich froh darüber. Weil es mir beim Betrachten selbst heute noch bewusst macht, wieviel Glück wir hatten und wie dankbar ich damals war, diesen Tag unbeschadet überstanden zu haben.
Das war das erste Mal, dass ich wahrhaftig geglaubt habe, mein Leben könnte zu Ende sein.
Viele Jahre später, gab es noch einmal so ein Ereignis.
Ich hatte den Winterurlaub mit meiner Freundin auf einer Kanarischen Insel verbracht. Wir saßen in einer Boeing 747 auf dem Luftweg nach Hause, als plötzlich in 9000 Meter Flughöhe in der ganzen Maschine die Lichter ausgingen. Dann war der Pilot mit seltsam verstellter Stimme über die Lautsprecher zu hören.
Es sei vermutlich ein Feuer im Cockpit ausgebrochen, teilte er uns mit.
Er trug ein Sauerstoffgerät, deshalb klang er so außergewöhnlich.
Wir müssten notlanden, er leite nun den Sinkflug ein, keuchte er durch das Mikro. Ein Blick durch das Fenster zeigte nichts als die Farbe schwarz. Wir befanden uns noch über dem Atlantik. Sie planten eine Wasserlandung. Ich weiß noch, wie die Stewardess hinter uns anfing, leise zu weinen.
Nein, damals haben meine Freundin und ich zwar kein Foto gemacht. Aber wir haben uns still an den Händen gehalten und all unsere Schokoladentafeln aufgegessen, die wir kurz zuvor im Dutyfree Shop gekauft hatten. Kalorien spielten keine Rolle mehr. Zu früh, dachte ich ununterbrochen in der Dunkelheit dieser Flugzeugkabine. Scheiße, viel zu früh.
Aber der Pilot schaffte es bis aufs Festland und bewältigte eine Notlandung auf spanischem Boden.
Vielleicht kennt der ein oder andere solche Situationen im Leben. Situationen in denen man so tief in der Scheiße steckt, dass man denkt, es nicht mehr heraus zu schaffen. Es sind die Kuhfladen. Die Kuhfladen des Lebens.
Weitere Jahre später kam Julius auf die Welt. Und da dachte ich noch einmal, dass mein Leben zu Ende sein wird. Nicht unbedingt physisch, nein, irgendwie anders „zu Ende“. Ich hatte schlichtweg ein ähnliches „Alles ist aus“ – Gefühl.
Wir haben nur sehr wenige Fotos in den ersten Monaten und in den folgenden zwei Jahren nach Julius Geburt gemacht. Wir wollten nichts festhalten, nichts für die „Ewigkeit“ sichern. Ganz im Gegenteil, wir hätten nichts lieber getan, als die Realität verleugnet. Es gibt ein Bild von mir, in dem ich mit versteinerter Miene Julius als Baby auf dem Arm halte. Und ich weiß noch genau, wie es entstand.
„Michael bitte mache ein Foto von mir. Ich muss mich irgendwann daran erinnern, wie es mir ging!“ sagte ich zu meinem Mann. Es war zu der Zeit, als mich die Depression noch voll im Griff hatte.
Auch um dieses Foto bin ich heute irgendwie dankbar. Weil es mir vieles ins Gedächtnis ruft.
Wir Menschen haben die Fähigkeit schlimme Dinge irgendwann nur noch verblasst wahrzunehmen. Das ist sicherlich sehr gut so. Aber ich denke, dass ein Vergessen absolut nicht sinnvoll ist. Manchmal ist es sogar katastrophal und völlig falsch (das zeigt uns die Geschichte).
Die Kuhfladen gehören wohl zum Leben. Auch wenn wir eigentlich auf Sie verzichten könnten.
Ich merke, dass es mir hilft, wenn ich mich hin und wieder erinnere. Auch oder vielleicht gerade wegen diesen „Scheißhäufen“ (Man verzeihe mir die Wortwahl) bin ich die, die ich heute bin.
Während des jetzigen Urlaubes habe ich an einem Badetag am See eine Familie beobachtet. Sie waren gerade dabei, ihre Handtücher auszubreiten und die Taschen auszupacken. Die Kinder störten und die Eltern schienen genervt zu sein, auf jeden Fall motzten sie ihre Sprösslinge einige Mal lauthals an. Eine übliche Situation, die – wie ich vermute – Vielen (mir auf jeden Fall) bekannt vorkommen müsste.
Aber als die Sonne hervorblitzte, zückte der Vater plötzlich sein Handy und rief seine Familie zusammen. Diese stellte sich in Windeseile vor dem See auf und wie auf Knopfdruck grinsten alle Familienmitglieder zwei, drei Sekunden lang in die Linse. Dann ging es weiter mir Sachen ausräumen und Schnute ziehen.
Dieses Foto spiegelt jetzt nicht unbedingt die Realität wieder, dachte ich auf meinem Handtuch liegend schmunzelnd.
Manchmal fotografieren nicht das, was ist, sondern das, was wir gerne hätten.
Die Kuhfladen knipsen wir nicht. Zumindest selten. Dabei sind eigentlich sie es, die uns prägen und die Spuren hinterlassen.
Eins meiner ersten Motive mit meiner neuen Kamera war ein Kuhfladen. Also, ein richtiger, von einem echten Rindvieh. Ich musste ihn einfach fotografieren, weil mir beim Anblick des Haufens genau diese Gedanken, die ich hier aufgeschrieben habe, kamen. Interessant war, dass ich erst als ich die Bilder auf meinen Laptop speicherte und den Fladen im Vollbildmodus betrachten konnte, entdeckte, dass neben dieser Kacke eine gelbe Blume zu sehen war.
Vielleicht ist es im Leben auch so. Wenn man Schreckliches überwunden hat, kann man im besten Falle im Nachhinein auch Bedeutungsvolles darin erkennen. Damit will ich nicht ausdrücken, dass es Sinn macht, furchtbare Dinge zu erleben. Nein, auf keinen Fall. Nur können wir Unglück oder Leid nun einmal nicht vermeiden.
Nur verarbeiten.
Es grüßt Euch
Gabi
Wunderschöne Bilder sind das und auch die Texte ließt man gerne…..!
Das Buch von Dir, liebe Gabriele habe ich an einem Stück gelesen, einfach toll wie Du das gemeistert hast und wie ehrlich Du damit umgehst, mein Respekt.
Auf jeden Fall verfolge ich deinen Blog weiterhin. Ich hoffe Dir und deiner Familie geht es gut.
Lebst Du noch in Schwaikheim?
Vielleicht erinnerst Du Dich noch an mich…….Sternengruppe 2013 bis 2015.
Bin noch bis Ende Oktober in der Kita, dann wechsle ich die Einrichtung.
Es grüßt Dich ganz herzlich
Amelie
Liebe Amelie,
natürlich erinnere ich mich! Wie schön, dass Du hier vorbeischaust! Was den Wohnort betrifft, hat sich bei uns (noch) nichts verändert. Danke für Deine lieben Zeilen! Hab ich es gut gemeistert? Ich weiß nicht…ich bin dankbar, dass wir alle die erste schlimme Zeit überstanden haben und heute wieder so etwas wie „Alltag“ erfahren.
Aber ehrlich zu schreiben, das versuche ich, ja, weil sonst bringt es mir nichts (das Schreiben). Vielleicht gelingt mir das hin und wieder.
Dann kommt bei Dir ja bald etwas Neues! Ich wünsche Dir noch gute „letzte“ Wochen in Deiner jetzigen Kita!
Herzliche Grüße
Gabi