M wie Mensch

lexikon

 

Vor ein paar Wochen ist eine Nachbarin und gute Freundin von uns umgezogen. Und wie das eben bei einem Umzug so üblich ist, begann sie bereits monatelang vorher mit dem „Ausmisten“. Ihre Kinder waren mittlerweile schon längst aus dem Haus.

Deren Spielsachen waren geblieben.

Im Keller fand sich alles. Bagger, Barbiepuppen, Fischer Price-Baukästen, Wasserfarben, Holzeisenbahnen, Siku-Traktoren, Matchboxautos, Plastiktiere.

Schon nach dem ersten Räumtag stand sie mit einem riesigen Karton in den Armen vor unserer Tür.

Tom, was meinst Du, mmh.., könntest Du vielleicht…das hier…brauchen?“

Dann, ein Augenaufschlag, der die ganze Hoffnung,  all die Dinge, mit denen so viele Erinnerungen verbunden waren, nicht in die Mülltruhe werfen zu  müssen, verriet.

Und Tom brauchte. Alles. Sowieso. Keine Frage. Die erste große Kiste wurde in unserem Hausflur abgeladen. Und so ging es weiter. Klingeln. Augenaufschlag. Kartonübergabe. Klingeln…

Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Freundin zieht nicht weg, sondern zu uns.

So kam es, dass Tom stolzer Besitzer eines Lexikons aus dem Jahr 2004 wurde. In Zeiten von Wikipedia wohl ein antiquarisches und völlig veraltetes Nachschlagewerk.

Aber dieses monströse Buch faszinierte Tom. Er machte es sich damit auf dem Fußboden gemütlich und begann, darin zu blättern.

„Mama, weißt Du, nach was ich als erstes schaue?“

Natürlich. War doch klar.

Pudel, schreibt man mit „P“, gell Mama?“ rief er.

„Genau“, sagte ich und grinste.

Kurze Zeit später hörte ich etwas stotternd: „Uurspr, Punkt,  als Jaaaa g d hund geeeezüüchtete Hunderaasseee. .. Coooool. Da steht alles drin, Mama!

Dann: „Jetzt guck‘ ich nach Mensch. Mit „Mmmmm“, gell Mama?“

„Genau!“

Diesmal dauerte es ein wenig länger…im Hintergrund ging ein leises Gemurmel von undeutlichen und wirren Buchstaben los.

„ICH HABS! ICH HABS!“

„O.k., lass hören!“

 

lexikon-offen

Hooooomooo sapiiiiens. Einee Aart P R i maaaaten mit aauuf rechteem Gaang, staaarkeer Ent wiickluung des Gehirns, iinsbees Punkt der Gr oßhiiirnriiinde. Damit in V eerbiindung stehen die  Sprrraaache, das Denken…

Dann erstummte Tom abrupt.

Ich schluckte. Denn ich ahnte, was gleich folgen würde. Ich konnte Toms Gedanken lesen. Aufrechter Gang, starke Entwicklung des Gehirns, Sprache, Denken. Die maßgeblichen Bestimmungsmerkmale eines menschlichen Wesens?

„Aber Mama, Julius…“, stammelte Tom. Pause. Nachdenken. Blick ins Buch. Blick zu mir. „Schau mal…, dann ist Julius doch eigentlich gar kein richtiger Mensch…“

Ich musste schlucken. Aber was noch viel wichtiger war: Ich musste etwas antworten. Jetzt. Sofort. Etwas Kluges.

Aber Was?

Mir fiel nichts ein.

„Das Lexikon ist schon alt, Tom, sehr alt“, nuschelte ich nur.

 

Wirohnenamen

Wir Autoirdischen….

3 Gedanken zu „M wie Mensch

  1. Ich habe ein großes Verständnis und nehme sofort Anteil an der Situation.
    Nun ja…machmal hat man die Kraft mit dem „gesunden“ Kind zu sprechen. Gemeinsam dann natürlich zu dem Ergebnis kommen, dass das Lexikon schlichtweg fehlerhaft ist…
    Menschen (so könnte ich es mir bei meiner kleinen Tochter Johanna vorstellen) kann man an so vielem erkennen….zwei Beine, Arme, Füße, Finger, Haut, Nase….. dann gemeinsam vielleicht glucksend zu dem Ergebnis kommen, dass der, der das Lexikon geschrieben hat, nicht ganz schlau ist. Das sind dann starke Tage.
    Aber die hat man eben nicht immer (im Grunde genommen hat man sie viel zu selten)…und dann schluckt und nuschelt man….drückt Tränen und Schmerz hinunter und versucht sich abzulenken. Zumindest ist es bei mir so.
    Vielleicht ist der Schmerz eben auch die Angst, dass andere Menschen das eigene Kind ggf. so weit hinabkategorisieren könnte, dass sie ihm sogar die Gattung / Art absprechen würden? Ist diese Angst dabei?
    Dem könnte man dann all die aus unserem Alltag entgegensetzen, die sich kümmern, die da sind, die therapieren, behandeln, aufpassen, mitnehmen…. so viele… die Anteil nehmen. Die, die sich spezialisiert haben und Berufe gewählt haben, die auf die Hilfe der Menschen ausgelegt sind, die die klassischen Definitionsanforderungen im Lexikon nicht mal so eben erfüllen.
    Und dennoch schmerzt die Auseinandersetzung natürlich.
    Meine kleine Tochter merkte in der vergangenen Woche beim Mittagessen auch mal so eben wieder Vieles an,
    dass ihr kleiner Bruder in der Wildnis aber keine Chance hätte, zu überleben…
    und wie das eigentlich werden solle mit ihm….
    ob er für immer bei uns wohnen bliebe….
    ob er vielleicht auch nie sprechen könnte…
    ob er denn noch bei uns bliebe, wenn wir schon super alt wären und dann auch bald sterben müssten…..und was dann eigentlich wäre….also wenn wir sterben müssten….
    PAFF!!!
    Da hab ich auch immer wieder auf’s Neue geschluckt und um ganz ehrlich zu sein….

    Ich mag bemüht sein und eine liebende Mutter zweier Kinder.
    Aber: Den Nachtisch, den ich eigentlich noch als kleine Überraschung für sie vorbereitet hatte; den hab ich ihr verschwiegen und vorenthalten! Komplett und nicht mal nachgeholt!
    Pädagogisch sinnvoll ist definitiv was Anderes.

    Trotzdem konnte ich mit meinem Mann zumindest abends über mich selbst lachen….bei einem Glas Wein und einem „für unseren Geschmack“ etwas zu süßem Nachtisch. Aber bevor er „umkommt“….

    1. Liebe Judith, zum Nachtisch: wir Großen sind halt alle auch noch Kinder. Ist doch schön, wenn man dem „Kleinen“ in sich, was Süßes gönnt. Bei mir gibts Gummibärchen…
      Und zum Lexikon: So ein Lexikon hat ja so etwas Verbindliches, es ist immerhin ein Nachschlagewerk. Und wahrscheinlich spielt die Angst eine Rolle. Sie spielt im Leben ja eigentlich immer eine zentrale Rolle, denke ich. Vielleicht ist es aber weniger die Angst vor den anderen, es sind ja meistens die eigenen Anteile, die berührt werden.
      Auf jeden Fall habe ich etwas daraus gelernt….man sollte nie aufhören, Dinge zu hinterfragen.
      Ganz liebe Grüße!
      Gabriele

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