Es ist mal wieder soweit. Die Jahreszeiten haben gewechselt.
Aus dem Sommer ist Herbst geworden.
Aus den grünen Blättern an den Bäumen sind beeindruckende Kunstwerke entstanden, die ausschauen, als ob sie eine unsichtbare Hand beleuchten würde. Die Menschen beginnen in der kühlen Luft zu frösteln und freuen sich auf gemütliche, zurückgezogene Stunden in ihren Häusern.
Somit wird es auch mal wieder Zeit, die Kleidung der Kinder anzupassen.
Tom braucht eine wärmere Jacke und neue Schuhe. Er ist der Große. Er bekommt alles neu. Wir gehen in den Laden und suchen uns Kleidungsstücke aus, die noch keine Geschichten erzählen können. Dazu müssen sie erst eine Weile an den Füßen oder am Körper getragen werden.
Bei Julius ist das anders.
Für ihn stöbere ich heute in den Kartons, die sich in unseren Kleiderschränken unter Hosen und Röcken verstecken. Die Kisten sind vollgestopft mit all den niedlichen Dingen, aus denen Tom schon lange heraus gewachsen ist. Und sie sind randvoll mit Erinnerungen. Es ist, als ob jeder Pullover und jedes T-Shirt ein Abenteuer zu berichten hat.
Und plötzlich halte ich sie in den Händen.
Mein Gedächtnis hat sie schon vor langer Zeit tief unter neuen Eindrücken begraben.
Toms erste Krabbelschuhe.
Ich streiche mit den Fingern über das glatte Leder, fühle die vielen Falten, die sich im Laufe ihres Einsatzes gebildet haben. Wie unglaublich abgenutzt sie sind! Sie sehen aus, als ob sie bereits mehrere Kinder bei ihren ersten Fortbewegungsversuchen begleitet hätten! An den Schuhspitzen ist das Leder aufgerissen, die Farbe an den Rändern abgeschabt und die Sohlen sind ganz speckig.
In diesen Schuhen wurde viel erlebt. Reichlich ausprobiert. Die Gegend erkundet. Grenzen ausgetestet. Sich gespürt und gerieben. Hingefallen und aufgestanden. Gelacht und getobt.
Oh, das tut weh.
Weil ich den Vergleich ziehe. Julius hat in seinem Leben noch keine Schuhe an den Füßen getragen, seine Strümpfe zeigen keine Tragespuren, auf seinen Hosen werden vermutlich nie Flicken kleben.
Was heißt das?
Sind seine Erfahrungen weniger wert, nur weil sie keine direkten Spuren auf seiner Kleidung hinterlassen?
Natürlich nicht.
Mir wird klar, dass meine Traurigkeit heute nichts anderes ist, als der große Schmerz über die Anerkennung der Vergänglichkeit.
Es ist nicht das Nebeneinanderstellen von Toms und Julius Geschichte. Es ist diese tiefe Erkenntnis, dass jeder einzelne Moment des Lebens einzigartig ist und nie wieder kommt.
Julius wird in Toms Kleidung seine eigenen Erfahrungen machen. Es werden ganz andere sein, wie Tom sie gemacht hat. Keine Besseren oder Schlechteren. Nein, seine eigenen.
Ich bin gespannt, von welchen Erlebnissen Toms neue Schuhe und die abgetragene Jeans an Julius Beinen, mir im nächsten Jahr berichten werden…